Rose Heuberger
Vertrauen in das Sichtbare
Die sich verändernden Landschaften waren ihr schon als Kind vertraut. Sie sah, wie aus bewaldeten Hügeln binnen kurzer Zeit kahle Landschaftslinien wurden. Scharf konturiert. Doch auch diese Silhouette hatte keinen Bestand. Schweres Gerät rückte an, Schaufelbagger trugen die Hügel ab bis tief in den Grund. Schicht um Schicht. Phantastische Farben und mineralhaltige Stoffe kamen zum Vorschein. Quarzsand. So weiß wie der Strand am Meer, so gelb wie die Sonnenblumen, rosarot wie der Abendhimmel oder sogar nachtblau. Quarzsand in allen Farbschattierungen. 500 000 Tonnen ver-schwanden Jahr um Jahr. Eine neue Landschaft entstand. Wie das geht, lernte Rose Heuberger schon in frühen Jahren kennen, als sie noch nicht ahnen konnte, was sie einmal alles unter der Sonne ablichten würde.
Nur ein paar Kilometer sind es von Großschönbrunn, dem Bauerndorf in der Ebene, zu den Hügeln am südlichen Rand des Truppenübungsplatzes Grafenwöhr. Etwa dreißig Kilometer westlich von Weiden in der Oberpfalz. Näher ist Amberg, das Großschönbrunn über Jahrhunderte hinweg zur Hofmark zählte. Hier ist Rose Heuberger 1957 geboren und aufgewachsen. In der zweiklassigen Dorfschule, acht Klassen in zwei Schulräumen, lernt sie das Alphabet und sich zu fügen. Sie ist die älteste Tochter des Dorfbäckers und erfährt beizeiten das harte Brot der frühen Jahre. Da ist sie neun und steht nachmittags hinter der Ladentheke. Denn jede Hand wird in der sich entwickelnden Bäckerei gebraucht. Und da gibt es noch die beiden jüngeren Brüder und das besondere Konzept des Bäckers Heuberger.
„Das Getreide der Bauern lagerte in der großen Scheune des Vaters und er gab Brotmarken aus Aluminium aus, das die Bauern später gegen ihr Brot eintauschten. Es war ein System der Naturwirtschaft, das den Bauern das Brot aus ihrem angebauten Roggen und Weizen garantierte.“
Weil es sein musste, stieg Rose in den Verkaufswagen ein, wenn ihre Mutter die Kundschaft in den umliegenden Dörfern und Höfen belieferte. Zu diesen Kunden gehörten auch die Familien der Sandgrubenarbeiter, die in den 60-er Jahren im Bauernland in der Oberpfalz ein eigenes soziales Leben führten.
„Für die Arbeiter der Sandgrube war es ganz unmöglich von den Bauern Land zu kaufen, um sich ein eigenes Haus zu bauen. Es gab eine strikte Trennung. Das hat sich erst im Laufe der Jahre geändert. Heute ist es den Bauern egal, wer von ihnen ein Grundstück kauft, um ein Haus zu bauen.“
Von der 6. Klasse an werden Roses Schulwege länger. Sie wechselt in eine weiterführende Schule in Amberg und setzt erfolgreich ihren Willen durch: „Ich will etwas von der Welt erfahren, ich will lernen.“ Damit durchkreuzt sie Omas archaisches Konzept, ‚die wird sowieso geheiratet, solange kann sie im Laden helfen’.“
Nach der Mittleren Reife besuchte sie zwei Jahre die „Fachakademie für Sozialpädagogik“ in Hof, dem sich ein einjähriges Praktikum in einer Einrichtung für körperbehinderte Kinder und Jugendliche in Coburg anschließt. Ihr vorläufiges Berufsziel: Erzieherin. Da ist sie 19 und holt ihren Kindheitstraum von der weiten Welt wieder hervor. Mutig und mit einem Schuss Tollkühnheit für ein Mädchen der 70-er Jahr aus der Oberpfalz.
13 Monate in Kanada
Das Einfallstor in die unbekannte Weite heißt für Rose Heuberger zunächst „Mother’s Helper“, die Frankfurter Vermittlungsstelle für Arbeit im Ausland, die junge Frauen in Gastfamilien vermittelt. Gegen Unterkunft, Verpflegung und ein geringes Taschengeld helfen sie im Haushalt. Rose trifft es gut mit ihrer Gastfamilie. Im November 1976 macht sie sich auf zu dem kleinen Ort in der Nähe von Toronto. Sie trifft auf ein freundliches, junges Ehepaar mit Kleinkind und Hund, das ein ehemaliges Schulhaus in ein Wohnhaus verwandelt hat und in der nahen Großstadt arbeitet.
In der Rückschau sieht Rose ihr kanadisches Jahr als die eindrücklichste Erfahrung:
„Es war die Offenheit der Begegnungen, die mich berührte und veränderte. Ich staunte über die Vielfalt der Einwanderer, die mit ihren Biographien kamen und sich einklinkten, wo immer sich eine Gelegenheit bot.“
Was sie sieht, macht ihr Mut, sich selbst zu erproben. Sie zieht weiter, macht Station in einer Werkstatt für Gebrauchskeramik, schaut den Töpfern über die Schulter und packt mit an, wo sie gebraucht wird und willkommen ist. Wie in einer Galerie von Glaskünstlern, die sich auf Schmuck und Tiffanylampen spezialisierten. Nach Monaten in den Weiten Kanadas zieht sie es nach Vancouver, in die Glitzerstadt an der pazifischen Ostküste. Wie es der Zufall will, kommt sie im Hafen in Kontakt mit Lachsfischern und bewährt sich zwei Monate auf Kutterfahrten. Im Dezember 1977, nach 13 Monaten in Kanada, setzt sie den Schlusspunkt: Spontan löst sie das Rückflugticket nach Deutschland.
Studium in Regensburg
Es ist nahe liegend, dass sie den losen Faden ihres Berufsziels „Erzieherin“ wieder aufgreift. In Regensburg schreibt sie sich in der stürmisch wachsenden Uni für das Fach Sozialpädagogik ein und konzentriert sich auf das Studium. Mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit zieht sie es erfolgreich durch und ist guten Willens, sich in diesem Metier zu verankern. Mit Zuversicht tritt Rose Heuberger den Job bei der Stadt Regensburg an, um mit arbeitslosen Jugendlichen an deren Eingliederung ins Berufsleben zu arbeiten. </p>
Es sind die Vorschriften, Verbote und Sanktionen, die ihr in die Quere kommen. In der Oberpfalz weht der Wind des Widerstands gegen die beschlossene atomare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. Der Protest aus der breiten gesellschaftlichen Mitte beflügelt und ist ansteckend. Klar, dass die junge Sozialpädagogin Heuberger mit ihren „Jungs und Mädels“ zum Bauzaun in den Taxöldener Forst will. Trotz des Verbots durch das Jugendamt.
„Es wurde für mich zum Schlüsselerlebnis: Wenn mir jemand vorschreibt, was ich zu tun und lassen habe, dann kann ich das nicht. Dann wird mir ohne Mitspracherecht die Autonomie der Entscheidung genommen. Die Obrigkeit oktroyiert ihr Regelwerk ohne Rücksicht darauf, ob es auf diesen Fall passt oder genau das Gegenteil erreicht wird.“
Berlins Architektur
Rose Heuberger nimmt eine Auszeit und zieht nach West-Berlin. Sie bleibt fünf Jahre, erlebt die Wendezeit und entdeckt die Architektur der Großstadt. Ein Weg entsteht, wenn man ihn geht. Diese Fähigkeit, Nischen für sich zu entdecken und zu nutzen, kam ihr in Berlin zugute. Und Rose ist dabei nicht zimperlich.
Sie löst die Überlebensfrage auf pragmatische Weise. Aus einer inneren Stärke heraus, entscheidet sie, was sie sich zutraut. Zum Beispiel: Taxifahren. Binnen drei Monate machte sie den Taxischein und wählt die Nachtschichten hinter dem Steuer. Die unerlässliche Ortskundeprüfung schaffte sie innerhalb von drei Monaten. In ihrem typischen Understatement erwähnt sie noch: „Manche brauchten dafür ein Jahr.“
„Bei meinen Fahrten durch die Stadt, insbesondere nachts und sonntags wenn es ruhiger war, sah ich das Straßenbild mitunter wie durch die Videokamera. In Regensburg hatte ich eine Weile bei meiner Arbeit mit Jugendlichen mit der Videokamera gearbeitet. Es entstanden experimentelle Videofilme, die wir am Schneidetische bearbeitetet hatten. Es machte mir Freude, Bilderkonzepte zu entwickeln. Nun interessierte mich, wie aus dem bewegten Bild ein stehendes wird, das den Betrachter wie eine Skulptur anmutet.“
Es war mehr als nur ein Impuls, der sie in den Berliner Frauen-Foto-Laden führte. Mit dem Erwerb ihrer ersten Nikon Spiegelreflexkamera buchte sie den angebotenen Fotokurs, denn wie die drei Frauen im Foto-Laden wollte auch Rose keine halben Sachen. Von Anfang an entwickelte sie ihre Fotoarbeiten selbst im Labor.
„Ich mag es genauer wissen, damit ich das Ergebnis erhalte, das ich mir beim Betrachten vorstellte. Nach einiger Zeit wusste ich, ob meine Bildkonzepte stimmig waren und spürte, wenn mir ein gutes Bild gelang. Dann passt einfach alles zusammen.“
Dieses altmodische Vertrauen in das Sichtbare erprobte sie erstmals in Ost-Berlin. Es war kurz nach dem Mauerfall, als sie mit dem West-Berliner Taxi Fahrgäste in den Osten der Stadt fuhr. Es wurden immer mehr Fahrten zu Zielen im „wilden Osten“ und Rose erschloss sich mit der Kamera die Vielfalt der Berliner Architektur. Die noch erhaltenen Straßenzüge aus der wilhelminischen Zeit, Funktionsgebäude aus der Bauhauszeit und die Ära des stalinistischen Wiederaufbaus. In strenger Reduktion der Realität arbeitete sie die Struktur der Gebäude heraus. Möglich, dass sich hier ihr Blick für die unwillkürliche Schönheit von Zweckbauten entwickelte, die allein nach statischen Berechnungen und ökonomischen Gege-benheiten errichtet wurden. Davon zeugen ihre Bilder der „Franzensfeste“ von 2008 in Oberitalien.
Mit dem festen Vorsatz, das Fotografieren zu ihrem Beruf zu machen und das Handwerk von Grund auf zu lernen, verließ sie Anfang der 90-er Jahre Berlin. Sie kehrte nach Regensburg zurück, um sich hier in einem Foto-Studie ausbilden zu lassen. Lange hatte sie gesucht und zig Hürden genommen, denn die staatliche Berufsförderung sieht die „Umschulung“ von einem akademischen Abschluss in einen „Handwerksberuf“ nicht vor.
Ein Preis von Sinar Photography
Wie gründlich sie ihr Foto-Handwerk lernte, machte 1993 der bundesweit ausgeschriebene Wettbewerb der Züricher „Sinar Photography“ deutlich. Als Anwender von professionellen Fotoprodukten wollten die Schweizer wissen, wie kreativ eine Fachkamera eingesetzt werden kann. Rose lotete aus, entschied sich für geometrische Formen, Lichtbrechungen und extreme Einstellungen und überzeugte. Als eine von vier Preisträgern fuhr sie zum einwöchigen Workshop nach Zürich. Im Jahr darauf gab sie in Freihung/ Oberpfalz mit der Ausstellung „Sand I“ ihr Debüt als freie Fotografin.
Mit der Zuversicht und dem notwendigen Schuss Unbekümmertheit „es im neuen Job zu schaffen“, zog es sie wieder in die weite Welt. Einige Monate dauerte die Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Prag über Moskau bis Wladiwostok. Auf dem Rücken ein 30-Kilo-Rucksack inklusive zwei Kameras und Wechselobjektive in der Fototasche. „Ich habe das Leben dort fotografiert“, kommentiert sie das Unternehmen, das sie bis in die ehemaligen militärischen Sperrbezirke führte.
Das Honorar einer Reise-Zeitschrift deckt bei weitem nicht ihre Unkosten. Rose lernt die Zwänge als freie Fotografin und sucht in den folgenden zwölf Jahren den Kompromiss zwischen den Ambitionen der künstlerischen Fotografie mit dem Broterwerb der Berufsfotografie. In der Engelburgergasse mietet sie gemeinsam mit einem Kollegen ein Ladenlokal an, richtet ein Labor ein und erprobt sich.
Fotografieren bleibt die Passion
2003 erhält sie den Kulturpreis der Oberpfalz und stellt aus. In mehr als 30 Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen präsentiert sie ihre Sicht auf „Herrschaftsräume“, „Bilder aus China“, „Frauenzimmer“ oder „Drahtgewebe und Eisengesenk“. Vieles in schwarz/weiß, ihre bevorzugte Präsentation, wenn es um das Verdichtete einer kristallklaren Fotografie geht. Den Brotberuf als Fotografin muss sie 2006 aufgeben, als eine Tumorerkrankung ihr fortan das schwere Heben und Tragen verbietet. Und eine gepackte Fototasche wiegt locker etliche Kilo.
Rose Heuberger kehrt nach erfolgreicher Rehabilitation in ihrem ersten Beruf als Sozialpädagogin zurück. Die künstlerische Fotografie bleibt ihre Passion. Mit einer neuen Empfindlichkeit der Sinne erkundet sie mit der Kamera, was es heißt zu pendeln: „Einmal Parsberg und zurück“ heißt das Thema ihrer letzten Ausstellung 2014, in der sie in einer verdichteten Erzählung vom Alltag zwischen den Bahnhöfen in Bildern berichtet.